Vor einigen Wochen haben wir, der AStA der Universität Münster und die Kritischen Mediziner*innen Münster, ein Statement zu Prof. Dr. Paul Cullen veröffentlicht1. Anlass war, dass wir die Studierendenschaft sowie die Universitätsleitung über sein Auftreten in der Öffentlichkeit informieren und uns von seinen Aussagen distanzieren wollten. Konkret kritisieren wir seine antisemitischen Äußerungen, sein populistisches Auftreten, seine Haltung zur Corona-Impfung und sein Engagement in der fundamentalistischen und nahtlos in die extrem Rechte übergehende Lebensschutzbewegung. Neben der Aufklärung über sein politisches Wirken riefen wir die Universität dazu auf, sich zu diesem Fall zu positionieren und zu überprüfen, ob das öffentliche Auftreten Cullens mit den Grundsätzen und Prinzipien der Universität Münster im Konflikt stehe.

Da Cullen mit seinen Äußerungen sehr bewusst in die Öffentlichkeit tritt, geht es bei unserer Kritik auch nicht um ihn als Privatperson, sondern um seine öffentliche Wirksamkeit. Wir sehen uns als kritische Studierende in der Verantwortung, auf Antisemitismus unserer Dozierenden hinzuweisen und auf die Verbindung zwischen den christlich-fundamentalistischen Kreisen der Lebensschutzbewegung und strukturellem Antifeminismus sowie rechten und verschwörungstheoretischen Kreisen aufmerksam zu machen. Aus diesem Grund möchten wir in diesem Statement noch einmal festhalten, was sich bisher ereignet hat, wie wir die erhaltenen Reaktionen inhaltlich einordnen und ihre Bedeutungen untersuchen.

Auf eine von Medizinstudierenden verfasste Petition (24.01.21), die ebenfalls eine kritische Auseinandersetzung mit Cullens Position an der Universität forderte2, folgte dann am 08.02.21 eine zweite, dieser Haltung entgegengesetzte Petition3. Am 08.02.2021, am 11.02.2021 und am 15.02.2021 wurde in den Westfälischen Nachrichten über den Fall berichtet4. Am 05.02.2021 nahm Cullen in einem offenen Brief persönlich Stellung zu der Thematik.
Sowohl die Cullen gegenüber kritische Petition, als auch die Gegenpetition richten sich an Studierende der Universität Münster. Die Kommentare unter der Gegenposition suggerieren jedoch, dass es sich bei vielen Unterzeichner*innen gar nicht um Student*innen aus Münster, sondern um Menschen aus christlich-fundamentalistischen Kreisen aus ganz Deutschland handelt. Diese Beobachtung deckt sich mit der Verbreitung der Gegenpetition auf diversen christlich-fundamentalistischen Plattformen wie "alfa-ev", "charismatismus", "Die-Tagespost" und "kath-net.", sowie auf Plattformen, die ins rechte bis extrem rechte Spektrum hineinreichen ("Achgut.com", "tichyseinblick")5.

In diesem Zuge möchten wir auch berichten, dass wir infolge der Veröffentlichung unseres Statements plötzlich eine Vielzahl von Hassmails erhalten haben. Die zahlreichen Reaktionen auf unser Statement haben eindrücklich gezeigt, wie effektiv die strukturellen Vernetzungen der Lebensschutzbewegung zu christlich-fundamentalistischen und rechtskonservativen Kreisen funktionieren. Der große Rückhalt, den Cullen aus diesen Zirkeln genießt, verdeutlicht, welch wichtige Funktion er in diesen Strukturen einnimmt. Auf der Seite "Dokumentieren gegen Rechts" findet sich eine detaillierte Darstellung eben dieser Verbindungen6.
Auffällig ist dabei auch, in welchem fragwürdigen Verhältnis die Reaktionen aus diesen Kreisen zu gerade der Debattenkultur und Meinungspluralität stehen, die von der Gegenseite immer wieder eingefordert wurde. Denn nicht nur viele der Zuschriften, sondern auch Cullen selbst erhebt in einem Artikel der WN den Vorwurf der "Cancel Culture".

Bei diesem Begriff handelt es sich um einen häufig in rechtskonservativen Kreisen genutzten Kampfbegriff, der verwendet wird, um Kritik an der eigenen Meinung zu delegitimieren und die eigene Deutungshoheit und Machtposition im öffentlichen Diskurs zu schützen. Meist fällt der Begriff, wenn Kritik an diskriminierenden, antidemokratischen und rechten Positionen geäußert wird, welche die Grenzen des öffentlichen Diskurses überschreiten. Der Vorwurf der "Cancel Culture" ermöglicht es denjenigen, die ihn äußern, ihre Aussagen als vermeintlich legitime, durch die Meinungsfreiheit geschützte Gegenposition zu etablieren. Dies führt häufig dazu, dass sich so der Diskurs verschiebt und unsagbare Aussagen sagbar gemacht werden. Es darf nicht sein, dass sich diskriminierende Aussagen unter dem Deckmantel der Meinungspluralität etablieren7.

Außerdem lenkt der Vorwurf der Cancel Culture letztlich auch davon ab, sich inhaltlich mit der Thematik auseinanderzusetzen: Statt zu den antidemokratischen, antisemitischen und frauenfeindlichen Aussagen Stellung zu beziehen, stilisiert sich Cullen letztlich zum Opfer, zu einem Märtyrer für die Meinungsfreiheit.

Dabei ist es noch einmal wichtig zu verdeutlichen, dass Cullen insbesondere in seiner Eigenschaft als Arzt und "Professor der medizinischen Fakultät Münster“ auftritt und diese Position aktiv einsetzt, um seine Rolle und seine Glaubwürdigkeit an der Spitze einer Bewegung zu legitimieren. Damit erhalten aber auch seine Aussagen eine andere Tragweite. Wenn Cullen sich in einer Rede explizit rechter Rhetorik bedient und dabei sein Vokabular direkt bei dem prominenten Vertreter der Neuen Rechten Götz Kubitschek ausleiht, wie Andreas Kemper vor Kurzem aufzeigte8, dann bleiben solche Äußerungen keine privaten Meinungen, sondern sie werden auch zu öffentlichen Aufforderungen.

Das ist besonders im Bezug auf seine antisemitischen Aussagen gefährlich. Cullen hat sich bisher weder öffentlich zu den Antisemitismusvorwürfen geäußert, noch zu dem "Manifest" aus dem Jahr 2016 verhalten, in dem diese Positionen besonders klar wurden9. Das Dokument wurde mittlerweile von ihm aus dem Netz genommen, worüber wir uns freuen. Zwar sehen wir es als Bestätigung, dass Cullen sich der Brisanz seiner Positionen durchaus bewusst ist, doch wir haben Zweifel an seiner moralischen Läuterung; und auch in der öffentlichen Debatte wurde dieser Punkt bisher konsequent ausgeklammert.

Erschreckend dabei ist vor allem, dass die eindeutigen und klar belegten Beweise für Cullens antisemitische Aussagen auch in der Öffentlichkeit immer wieder angezweifelt werden und so eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Thematik verhindert wird. Wir sind nicht in der Position, abschließende Bildungsarbeit zu dem Thema Antisemitismus zu leisten, möchten aber an dieser Stelle dazu auffordern, sich explizit damit auseinanderzusetzen.

Es muss Teil des gesellschaftlichen Bewusstseins werden, dass Antisemitismus schon seit Jahrtausenden unsere Gesellschaft durchzieht und nicht mit der Zeit des Nationalsozialismus einfach verschwunden ist. Antisemitismus drückt sich auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen aus, kann verschiedenste Formen annehmen und beginnt nicht erst mit einem expliziten Angriff auf jüdische Menschen, sondern ist Teil einer viel weitreichenderen Ideologie. Wir rufen dazu auf, sich zum Beispiel auf den beigefügten Seiten der Amadeu-Antonio-Stiftung über das Thema zu informieren, um zu verstehen, weshalb die von uns zitierten Aussagen Cullens keineswegs uneindeutig oder unklar, sondern im Gegenteil offenbarend und unmissverständlich antisemitisch sind10. Es ist unsere Verantwortung als Gesellschaft, Antisemitismus in jeder Form und an jeder Stelle zu bekämpfen.

Vor allem in diesem Zusammenhang irritiert es uns, dass Cullen in dem zweiten Artikel in der WN vom 11.02.21 vorschlug, die Studierenden sollten öffentlich über seinen Verbleib an der Uni abstimmen. Denn abgesehen davon, dass es ihm bekannt sein sollte, dass die Statuten der Universität solche Abstimmungen weder vorsehen noch ermöglichen, finden wir es unpassend, diese Frage den Medizinstudierenden in die Hand zu geben. Auch wenn wir uns grundsätzlich für mehr studentisches Mitspracherecht einsetzen, steht in diesem Fall ja nicht zur Debatte, ob Cullen Studierenden in angemessener Weise Wissen vermittelt (auf diese Frage hätten Medizinstudierende sicherlich eine angemessene Antwort), sondern, ob er in Wort und Schrift Positionen erkennen lässt, die den Rahmen der Grundwerte unserer Gesellschaft verlassen. Darüber lässt sich nicht abstimmen.

Schließlich möchten wir einerseits unsere Freude darüber ausdrücken, dass die Universität sich im Rahmen des Statements vom 26.02.2021 zu der Thematik geäußert hat. Dass die medizinische Fakultät die kritische Auseinandersetzung mit Cullens Äußerungen begrüßt und seine tief problematische Gedankenführung und Wortwahl erkennt, bestärkt uns in unserem Anliegen.

Es macht uns allerdings betroffen, dass die Fakultät sich nach wie vor nicht zu den antisemitischen Aussagen Cullens verhält. In ihrer Reaktion ignoriert die Universität, dass es Aussagen gibt, die nicht unter den Schutz der freien Meinungsäußerung fallen, wenn sie menschenfeindliches Gedankengut enthalten. Dazu hätten wir uns eine Positionierung gewünscht.
Denn die Kernfrage, um die es in dieser Debatte geht, ist eben nicht, dass jemand für irgendeine unbedarfte Meinung seinen Titel abgeben soll, sondern, ob wir uns als Gesellschaft darauf verständigen können, menschenfeindliche Aussagen nicht zu akzeptieren und uns entsprechend auch als Universität und als Studierendenschaft aktiv von ihnen zu distanzieren.

 

 

Verweise:

  1. Gemeinsames Statement des AStA und der kritischen Mediziner*innen: https://www.asta.ms/aktuelles-layout?id=125 
    (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
  2. Cullen-kritisches Statement aus der Studierendenschaft: https://www.change.org/p/westfälische-wilhelms-universität-münster-statement-der-studierenden-gegen-diskriminierung-und-für-gleichberechtigung-an-der-wwu 
    (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
  3. Gegenpetition aus der Studierendenschaft: https://www.change.org/p/studierende-der-wwu-statement-f%C3%BCr-freie-meinungs%C3%A4u%C3%9Ferung-und-kulturelle-diversit%C3%A4t-an-der-wwu 
    (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
  4. Pressemitteilungen WN: https://www.wn.de/suche?SearchText=cullen 
    (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
  5. Webseiten mit Verbreitung der Gegenpetition:
    Aus dem christlich-fundamentalistischen Spektrum:
    https://www.alfa-ev.de/lebensrechtler-mundtot-machen-alfa-empoert-ueber-vorgehen-des-asta-muenster-gegen-den-vorsitzenden-der-aerzte-fuer-das-leben/ (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
    https://charismatismus.wordpress.com/2021/02/12/kritik-an-cancel-culture-des-asta-in-munster/ (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
    https://charismatismus.wordpress.com/2021/02/13/warum-die-falsche-gleichung-soros-kritik-antisemitismus-selbst-antijudisch-ist/ (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
    https://charismatismus.wordpress.com/2021/02/21/die-causa-cullen-aus-christlicher-sicht/ (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
    https://www.die-tagespost.de/politik/studenten-fordern-lehrverbot-fuer-lebensschuetzer-cullen;art4879,215979 (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
    https://www.die-tagespost.de/politik/aktuell/bring-das-opfer-zum-erstarren;art315,215986 (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
    https://www.die-tagespost.de/politik/aktuell/rechtsstaat-oder-keiner;art315,215987 (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
    https://www.kath.net/news/74375 (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
    Aus dem rechtskonservatives bis (extrem) rechtes Spektrum:
    https://www.achgut.com/artikel/ausgestossene_der_woche_Ethiker_Mediziner_Feministin (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
    https://www.tichyseinblick.de/daili-es-sentials/paul-cullen-universitaet-muenster-asta/ (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
  6. Dokumentieren gegen Rechts: https://bkramer.noblogs.org/querdenkende-christen-ein-abtreibungsgegner-und-ein-rechtes-magazin/ 
    (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
  7. Zur Thematik der "Cancel- Culture": Zeitschrift "Der rechte Rand”. Ausgabe 188. Januar/ Februar 2021
  8. https://twitter.com/AndreasKemper/status/1362005576268578818 
    (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
  9. https://web.archive.org/web/20161125131030/https://www.kath.net/news/57579 
    (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
  10. Artikel der Amadeu-Antonio-Stiftung zu Georg Soros und Antisemitismus in “Finanzinteressen” und in Covid-Verschwörungsmythen:
    https://www.belltower.news/antisemitischer-hass-auf-soros-als-gemeinsamer-nenner-der-internationalen-rechten-47790/ (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
    https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/w/files/pdfs/verschwoerungen-internet.pdf (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)
    https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/verschwoerungsmythen-und-antisemitismus/antisemitismus-in-verschwoerungsmythen/ (Zuletzt abgerufen am 27.02.2021)